Nur wenige Persönlichkeiten haben eine ähnliche
internationale Stellung wie Sie. Und doch äußern die chinesischen Behörden,
wohin auch immer Sie reisen, ihren Unmut. So erst kürzlich anlässlich Ihrer
Unterredung mit Angela Merkel in Berlin. Wie denken Sie darüber ?
Die Reaktionen der chinesischen Behörden sind immer dieselben. Das ist
zur Gewohnheit geworden, für gewöhnlich folgen diesen Protesten keine
weiteren Konsequenzen. Was soll ich dazu sagen? Ich bedauere, dass durch
diese Besuche den Menschen, die mich einladen, Unannehmlichkeiten
entstehen, dass sie in Verlegenheit gebracht werden.
Wissen Sie, ich habe bei Politikern ein interessantes Phänomen
beobachtet: Bis auf einige wenige Ausnahmen treffen sie sich mit mir,
solange sie noch keine Minister oder Präsidenten sind. Danach meiden sie
mich, um Peking nicht zu verstimmen: Die wirtschaftlichen Beziehungen
mit China gewinnen die Oberhand… Aber mit all dem habe ich nichts zu
tun.
Die Verantwortlichen Chinas behaupten, dass Tibet ihnen gehört und dass
allein die Tatsache, darüber zu sprechen oder mich zu empfangen, eine
Einmischung in innere chinesische Angelegenheiten darstellt. In
Wirklichkeit sind es jedoch die Führer Chinas, die den anderen ihr
Verhalten vorschreiben.
Finden Sie diese Haltung nicht ein wenig eigenartig ?
Man könnte meinen, die chinesische Regierung verfüge in bestimmten
Ländern über besondere Rechte und würde bevorzugt behandelt, selbst wenn
sie sich in Dinge einmischt, die sie nichts angehen !
Was wissen Sie über die aktuelle Situation in Tibet ?
Die Situation ist schwer einzuschätzen. Soweit ich weiß – und die
Neuankömmlinge bestätigen das (jährlich fliehen 2000 bis 2500 Tibeter
nach Indien, Anmerkung der Redaktion) –, gibt es in den Städten immer
mehr Chinesen: Unter dem Deckmantel der Modernität hat sich Lhasa in
eine chinesische Stadt verwandelt. Da sie nun in der Mehrheit sind,
drängen sie anderen ihre Art zu leben, ihren Geschmack, ihre Musik, ihre
Gewohnheiten auf – zum Nachteil der tibetischen Traditionen. Und die
Tibeter können nichts dagegen sagen, denn wenn sie die Stimme erheben,
werden sie sofort unter dem geringsten Vorwand misshandelt und des
„Separatismus“ bezichtigt.
Ob es die chinesischen Behörden zugeben oder nicht: Derzeit ist eine Art
kultureller Völkermord im Gange, auch wenn Tibet in der Volksrepublik
derzeit sehr „in“ ist. Sehen Sie sich die jungen Flüchtlinge an, die
nach Indien kommen: Sie sprechen ihre eigene Sprache nur schlecht, reden
stattdessen Chinesisch, eine Sprache, die sie ebenso wenig ...
beherrschen. Frühere Exilanten erhielten eine tibetische Erziehung und
Bildung, sodass sie für sich eine Identität herausbilden konnten, obwohl
die spirituelle Identifikation beiderseits des Himalaya weiterhin stark
ist.
Sind die Olympischen Spiele in Peking eine Gelegenheit, der Stimme
Tibets Gehör zu verschaffen?
Ich habe meinen Standpunkt klargemacht, seit ich weiß, dass die
Olympischen Spiele 2008 in Peking stattfinden werden. Niemand hat ein
Interesse an einer Ausgrenzung Chinas. Vielmehr müssen wir es dabei
unterstützen, seinen Platz in der internationalen Staatengemeinschaft zu
finden. Jedoch unter der Voraussetzung, dass es sich an die Regeln hält
und die Menschenrechte achtet, wozu seine Führer sich mit ihrer
Bewerbung verpflichtet haben. Dies scheint nicht wirklich der Fall zu
sein, vor allem im Hinblick auf Tibet. Die Situation dort ist weiterhin
sehr besorgniserregend. Im Namen der Sicherheit häufen sich die
Zwangsmaßnahmen, und die Tibeter sehen kein Licht am Ende des Tunnels.
Daher rühren auch die vermehrten Zusammenstöße in den Städten. Die
Olympischen Spiele sind eine gute Gelegenheit, erneut auf das Problem
aufmerksam zu machen.
Wie steht es um die Kontakte zwischen Ihren Gesandten und den Vertretern
der chinesischen Behörden ?
Diese Kontakte werden unter den bestehenden Regeln fortgeführt. Im
Moment gibt es keine wirklichen Fortschritte und selbst wenn diese
Unterredungen in offener Atmosphäre stattfinden, nähern sich die
Positionen einander doch kaum an. Unsere Bemühungen, für Tibet einen
Autonomiestatus zu erreichen, stoßen aufgrund der Unnachgiebigkeit
einiger hoher Funktionäre auf eine Mauer der Ablehnung. Die chinesischen
Gesprächspartner sind – zu Unrecht – davon überzeugt, dass mein Ziel die
Unabhängigkeit ist.
Ich wiederhole: Ich verlange nichts weiter als eine echte Autonomie, so
wie sie in der chinesischen Verfassung vorgesehen ist. Wenn die
chinesische Regierung uns eine echte Autonomie zugesteht, welche die
Rettung unserer Kultur, unserer Sprache, der Spiritualität und der
Umwelt Tibets garantiert, spricht nichts gegen die aktuellen Grenzen. Es
ist aber natürlich einfacher, in einem demokratischen Land Autonomie zu
erlangen, in dem die Menschen ihre Meinung frei äußern und klare und
präzise Forderungen formulieren können, ohne bedrängt oder verhaftet zu
werden und Konsequenzen befürchten zu müssen.
Und doch gibt es immer mehr Tibeter, die beunruhigt sind, dass nichts
vorangeht…
Manche, vor allem junge Menschen, kritisieren die Langsamkeit dieser
Vorgehensweise, und ich verstehe ihren Frust. Ich kann nicht verlangen,
dass sie mir blind folgen, denn jedes Volk hat ein Recht auf
Selbstbestimmung und ich kann nicht von ihnen verlangen, darauf zu
verzichten. Ich versuche durch das, was ich den „Weg der Mitte“ nenne,
eine gütliche Lösung zu finden, bei der sich alle berücksichtigt sehen.
Nun, da die Exil - Tibeter ihre zivilen Behörden wählen, liegt es an
ihnen, ihren politischen Willen zu bestimmen und sich Gehör zu
verschaffen. Ich bin nur mehr ein Berater.
Für die Tibeter im Land sieht das anders aus: Sie befinden sich in einer
ungleich heikleren Situation. Nachdem, was mir Neuankömmlinge berichten,
kommen immer mehr Chinesen auf der Suche nach dem schnellen Geld nach
Tibet – zum Nachteil der lokalen Bevölkerung. Die Bauern werden
gezwungen, Platz zu machen. Unter dem Vorwand der Modernisierung werden
sie genötigt, ihre traditionellen Ansiedlungen zu verlassen und in
„Modelldörfer“ umzuziehen. Sie finden sich dann ohne Lebensunterhalt, am
Rande neuer Städte in einer Umgebung wieder, die ihnen unbekannt ist. Um
ihre Häuser bezahlen zu können, sind sie gezwungen, ihre Tiere zu
verkaufen. In den Klöstern tritt an die Stelle des Studierens immer
häufiger die Indoktrinierung. Die Folge davon ist, dass viele Tibeter
ihr Land zur religiösen Erziehung verlassen.
Glauben Sie, dass Ihr „Weg der Mitte“ auch nur die geringsten Chancen
hat, zu konkreten Ergebnissen zu führen ?
Auf politischer Ebene darf man in näherer Zukunft auf nichts Konkretes
hoffen, da wirtschaftliche und finanzielle Interessen vor allem anderen
stehen und keine Regierung es wagt, China die Stirn zu bieten. Das ist
traurig, aber das ist die Realität.
Es müssen daher andere Wege gefunden werden: der Schutz der tibetischen
Umwelt zum Beispiel. Es handelt sich dabei um ein sehr empfindliches
Ökosystem, dessen Zerstörung schwerwiegende Folgen für den gesamten
asiatischen Kontinent hätte. Ein Handeln ist hier dringend erforderlich,
nicht zuletzt seit der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecke, durch die
die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe beschleunigt wird. Man darf
nicht vergessen, dass die größten Flüsse Asiens ihren Ursprung in den
tibetischen Hochebenen haben und dass die Bewohner aller Nachbarländer
unter einer Verschmutzung ihres Wassers durch den Menschen leiden
würden. Wie es scheint, schwinden die Gletscher, und der Schnee schmilzt
immer schneller. Die alten Tibeter sagen, dass dies ein Unheil
verkündet. Davon verstehe ich nichts, aber ich stelle selbst fest, dass
es im Himalaya weniger Schnee gibt als in meiner Kindheit. Alles hängt
irgendwie zusammen: Und während man darauf wartet, das Übel an seiner
Wurzel zu packen, kann man doch zumindest die Symptome behandeln.
Wie steht es um die tibetische Kultur vor Ort ?
Das kulturelle Erbe Tibets ist ernsthaft bedroht. Im Exil werden keine
Mittel gescheut, um es zu schützen und weiterzugeben, doch vor Ort sieht
das anders aus. Es ist natürlich schön, den Potala-Palast zu
restaurieren und zum Weltkulturerbe zu erheben. Doch der Potala ist nur
ein Gebäude, nur Mauern, Bibliotheken, Fresken. Es ist schön, sich darum
zu kümmern und ihn als Zeugnis zu bewahren, doch die Kultur beschränkt
sich nicht nur auf Bauwerke.
Eine Kultur, das sind Menschen, ihr Wissen, ihre Kenntnisse, ihre
Sprache und ihre Geschichte, ihre Legenden. Sie verleiht dem Leben einen
Sinn und ist Teil der Schätze der Menschheit. Für uns ist der Beitrag zu
ihrem Schutz, die internationale kulturelle – oder auch politische –
Hilfe, unabdingbar. Ohne diese Hilfe verschwände die tibetische Kultur
innerhalb von weniger als fünfzehn Jahren und würde auf eine Art
Folklore für Touristen reduziert.
Es wird derzeit viel über die Beziehung zwischen Religion und Staat
gesprochen. Wie denken Sie darüber ?
Allgemein denke ich, dass die Zeiten, in denen Religion und Staat
vermischt wurden, vorbei sind. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht.
Der Dalai Lama ist gleichzeitig ein spiritueller und weltlicher Führer.
Diese doppelte Aufgabe war in einer bestimmten Zeit unserer Geschichte
wahrscheinlich notwendig. Doch heute haben sich die Umstände geändert.
Die tibetische Exilgesellschaft funktioniert nach demokratischen
Grundsätzen und nach dem Prinzip der Gewaltenteilung. Und das ist
deutlich besser so. Durch die Trennung der religiösen von den
politischen Institutionen kümmert sich jede um ihren Bereich. Sie können
natürlich kooperieren, sich gegenseitig unterstützen, doch für ihr
Handeln und ihre Entscheidungen sind sie jeweils selbst verantwortlich.
Heutzutage nimmt der Einfluss der Kirche oder der Religion in bestimmten
Teilen der Welt immer mehr ab, und auch die Werte der Familie gehen
immer mehr verloren. Die Rolle geht damit auf die laizistische Erziehung
über, und es liegt in ihrer Verantwortung, die Entwicklung der
intellektuellen und moralischen Fähigkeiten der jungen Generationen
fortzuführen. Aber das spirituelle, oder, falls Sie das bevorzugen, das
religiöse Leben, ist etwas anderes, Persönlicheres. Und schließlich darf
man auch diejenigen nicht vernachlässigen, die nicht gläubig sind, die
Atheisten. Sie werden immer zahlreicher und sind oftmals Menschen von
sehr hoher Güte. Das ist alles ganz schön kompliziert.
Sind Sie persönlich von den neuen chinesischen Vorschriften über die
Reinkarnation der Dalai Lamas, die am 1. September in Kraft getreten
sind, betroffen ?
(Das Gesetz erlaubt Wiedergeburten nur auf dem Boden
Chinas, also auch auf dem Tibets. Buddhisten, die außerhalb der
Volksrepublik wiedergeboren werden, werden nicht vom Staat anerkannt.
Davon betroffen ist auch die Wahl des nächsten Dalai Lama, der in Indien
lebt. Anmerkung der Redaktion)
Die neuen Maßnahmen hinsichtlich der Reinkarnation ? Sie scherzen !
Zuerst einmal machen diese Vorschriften deutlich, dass im Gegensatz zu
den Behauptungen der chinesischen Behörden die religiöse Freiheit in
Tibet nicht respektiert wird. In der Praxis sind die Mönche
verpflichtet, an so genannten „Sitzungen zur patriotischen Erziehung“
teilzunehmen und anschließend Prüfungen abzulegen, in denen sie mich
verleugnen und der kommunistischen Partei die Treue schwören müssen.
Dann beweist dieser bizarre Beschluss, dass seine Urheber, die sich in
gewisser Weise bemühen, „Reinkarnationsgenehmigungen“ zu erteilen,
nichts von der Reinkarnation oder dem Buddhismus verstehen. Sie sollen
sich informieren, studieren, lernen – dann sehen wir weiter! Sie denken,
dass eine Anordnung oder eine Vorschrift ausreicht, um alles unter
Kontrolle zu haben und ihre Macht über den Geist der Menschen ausweiten
zu können. Aber so funktioniert das nicht. Wenn sie nur ein wenig
aufmerksamer gegenüber der Realität wären, die sie umgibt, würden sie
das merken.
Ob diese Maßnahmen mich direkt betreffen? Wahrscheinlich. Sie wissen,
wie ich denke: Die Institution des Dalai Lama ist eine menschliche
Institution, die als solche dazu bestimmt ist, eines Tages zu
verschwinden. Ihre unmittelbare Zukunft hängt von den Tibetern ab. Wenn
sie es möchten, wird die Institution fortbestehen. Wenn sie der Ansicht
sind, dass ihre Zeit gekommen ist, kein Problem. Nach der buddhistischen
Tradition kehrt man auf die Erde zurück, um eine Aufgabe zu vollenden,
die man während seines Daseins nicht zu Ende bringen konnte. Der Dalai
Lama wird, wenn nötig, zurückkehren und befindet sich außerhalb der
Reichweite einer autoritären Macht.
Für mich ist all das kaum von Bedeutung. Ich bin der vierzehnte einer
langen Ahnenreihe – nicht der beste, aber auch nicht der schlechteste
der Dalai Lamas. In jedem Fall aber haben die Chinesen aus mir den
populärsten gemacht!
Beunruhigt Sie die in Gang gebrachte Annäherung zwischen Neu-Delhi und
Peking ?
Für die Zukunft Asiens ist es überlebenswichtig, dass Indien und China –
zwei Länder, die gemeinsam über zwei Milliarden Einwohner zählen – eine
auf gegenseitigem Vertrauen begründete, echte Beziehung der guten
Nachbarschaft aufnehmen. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist Tibet
eine zentrale Herausforderung für beide Seiten. Solange die Tibeter
nicht frei sind, besteht die Gefahr einer Krise. Und um sich vor
unangenehmen Überraschungen zu schützen, wird die chinesische Regierung
auf militärische Macht setzen. Indien seinerseits muss sich dieser
Bedrohung entgegenstellen und seine Armee entlang seiner nördlichen
Grenzen, die noch nicht einmal eindeutig festgelegt sind, stationieren.
Unter diesen Umständen ist es schwierig, Bedingungen für eine solide
Beziehung zu schaffen.
Eine Annäherung zwischen Indien und China liegt im Übrigen auch im
Interesse der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten und sei es
nur im Hinblick auf eine positive Handelsentwicklung. Denn das alles
hängt zusammen. Deshalb ist Tibet wichtig. China wird den Platz, den es
für sich einfordert und der ihm in der Welt zukommt, nicht durch eine
zügellose Kolonialpolitik sichern. Nehmen Sie zum Beispiel die
europäischen Länder: Sie haben ihren ehemaligen Kolonien schließlich
ihre Unabhängigkeit zurückgegeben. China kann diesen Weg nicht
unbegrenzt weitergehen. Es kann nicht einerseits vorgeben, Zivilisation
und Moderne nach Tibet zu bringen, und andererseits alles, was seine
Besonderheit ausmacht, insgeheim verschwinden lassen. Es ist
offensichtlich, dass Tibet aus einem ausgeglichenen Verhältnis zu China
Nutzen ziehen kann – jedoch nicht unter den Bedingungen der
Unterwerfung, die ihm derzeit auferlegt werden.
Zwischen Indien und Tibet bestehen jahrhundertealte Beziehungen, in
gewisser Weise von Lehrer zu Schüler. Dort liegt der Ursprung unserer
Traditionen, und in schwierigen Zeiten wendet sich Tibet Indien zu. Ein
harmonisches Miteinander dieser heiklen „Ménage à trois“ käme allen
zugute. Allgemeiner betrachtet werden Sie mir zustimmen, dass Tibet eine
Prüfung für alle Demokratien ist.

Übersetzung: Tanja Felder
Das Gespräch führte Claude B. Levenson für die Zeitschrift Politique
Internationale, dem exklusiven Kooperationspartner von Cicero in
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